Satipatthāna Sutta

Buddhas Vortrag über die vier Übungsbereiche der Aufmerksamkeit

(Satipatthāna Sutta)

Übersetzt von Adriaan van Wagensveld

 

Auftakt, Ziel und Überblick

[§1 Auftakt]

So habe ich gehört:

Einst verweilte der Buddha im Land der Kuru

bei der Marktstadt Kammāssadhamma.

Dort richtete er sich mit folgenden Worten an die Übenden:

 

[§2 Ziel der Übung]

„Dies ist der direkte Weg

zur Läuterung der Wesen,

zur Überwindung von Sorgen und Bedauern,

zum Beenden von Leiden an körperlich und geistig Unangenehmem,

zum Erlangen des Weges der Edlen,

zur Verwirklichung von Befreiung im Leben,

nämlich die vier Übungsbereiche der Aufmerksamkeit.

 

[§3 Überblick über die vier Übungsbereiche]

Was sind die vier?

Da verweilt ein Übender, indem er

den [1] Körper als einen Körper wahrnimmt, unermüdlich, klarbewusst und aufmerksam,

nachdem er Zu- und Abneigung gegenüber der Welt unberührt gelassen hat.

[So auch mit:]

[2] Gefühlen,

[3] Wahrnehmungsfeld Geist in seinen wechselnden Stimmungen,

[4] wechselnden Inhalten in diesem Wahrnehmungsfeld.

 

Erster Übungsbereich der Aufmerksamkeit: Körper

[§4 Vorbereitung]

Und wie verweilt ein Übender, indem er den Körper als einen Körper wahrnimmt?

Nachdem er an einen abgelegenen Ort oder zum Fuße eines Baumes

oder in ein leeres Haus gegangen ist, setzt sich ein Übender nieder,

die Beine gefaltet, den Körper gerade gebogen und die Aufmerksamkeit vor sich verankert.

 

[§5 Aufmerksamkeit auf Atmung, vier Übungen]

[1] Völlig aufmerksam atmet er ein, völlig aufmerksam atmet er aus.

[2] Wenn er lang einatmet, nimmt er bewusst wahr: ‚Ich atme lang ein.‘

oder wenn er lang ausatmet, nimmt er bewusst wahr: ‚Ich atme lang aus.‘.

Wenn er kurz einatmet, nimmt er bewusst wahr: ‚Ich atme kurz ein.‘

oder wenn er kurz ausatmet, nimmt er bewusst wahr: ‚Ich atme kurz aus.‘.

[3] Er übt sich so: ‚Ich atme ein und spüre dabei bewusst den ganzen Körper.‘,

er übt sich so: ‚Ich atme aus und spüre dabei bewusst den ganzen Körper.‘.

[4] Er übt sich so: ‚Ich atme ein und entspanne dabei den Körper.‘,

er übt sich so: ‚Ich atme aus und entspanne dabei den Körper.‘.,

 

 

[§6 Körperstellungen]

Darauf aufbauend nimmt ein Übender

beim Gehen bewusst wahr: ‚Gehen.‘,

beim Stehen: ‚Stehen.‘,

beim Sitzen: ‚Sitzen.‘,

beim Liegen: ‚Liegen.‘

oder er nimmt bewusst wahr, in welcher Stellung sich sein Körper gerade befindet.

 

 

[§7 Handlungen]

Darauf aufbauend ist ein Übender einer, der klarbewusst handelt

beim Hingehen und Zurückgehen, beim Hinschauen und Wegschauen,

beim Beugen und Strecken der Glieder, beim Tragen der Kleidung und der Essensschale,

beim Essen, Trinken, Kauen und Schmecken, beim Entleeren von Kot und Urin,

beim Gehen, Stehen, Sitzen, beim Einschlafen und beim Aufwachen,

beim Reden und beim Schweigen.

 

[§8 Körperorgane und -flüssigkeiten]

Darauf aufbauend nimmt ein Übender systematisch diesen seinen Körper bewusst wahr,

von den Fußsohlen aufwärts und von den Kopfhaaren abwärts,

wie er von Haut umhüllt, von vielfältig Unbeständigem angefüllt ist:‚In diesem Körper gibt es Kopfhaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Muskelfleisch, Sehnen, Knochen, Knochenmark, Nieren, Herz, Leber, Zwerchfell, Milz, Lunge, Dickdarm, Dünndarm, [und die Flüssigkeiten] Mageninhalt, Kot, Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiß, Fett, Tränen, Talg, Speichel, Rotz, Gelenkschmiere und Urin.‘

 

[§9 Vier Elemente]

Darauf aufbauend nimmt ein Übender systematisch diesen seinen Körper bewusst wahr,

an jedem Ort und in jeder Stellung, wie er aus den Elementen besteht:

‚In diesem Körper gibt es

[1] das Erdelement,

[2] das Wasserelement,

[3] das Feuerelement,

[4] das Windelement.’

 

[§10 Neun Leichenfeldbetrachtungen]

Darauf aufbauend vergleicht ein Übender, als ob er eine Leiche sähe,

die auf ein Leichenfeld gelegt wurde – schon einen, zwei oder drei Tage lang tot, aufgedunsen, blau angelaufen und aus der Flüssigkeiten heraus sickern – so vergleicht er diesen seinen Körper damit: ‚Wahrhaft, auch dieser Körper wird so sein.

Dies ist unausweichlich.’

 

Zweiter Übungsbereich der Aufmerksamkeit: Gefühle

[§11 Angenehme und unangenehme Empfindungen]

Und wie verweilt ein Übender, indem er Empfindungen als Empfindungen wahrnimmt?

Eine angenehme Empfindung nimmt er bewusst wahr als angenehm. Eine unangenehme Empfindung  nimmt er bewusst wahr als unangenehm. Und eine weder unangenehme noch angenehme Empfindung  nimmt er bewusst wahr als weder unangenehm noch angenehm.

 

[§12 Körperliche und geistige Empfindungen]

Eine an Fleisch gebundene Empfindung nimmt er bewusst wahr als eine an Fleisch gebundene angenehme Empfindung.

[So auch mit:]

ein nicht an Fleisch gebundenes angenehmes Gefühl,

eine an Fleisch gebundene unangenehme Empfindung,

ein nicht an Fleisch gebundenes unangenehmes Gefühl,

eine an Fleisch gebundene weder-unangenehme-noch-angenehme Empfindung,

ein nicht an Fleisch gebundenes weder-unangenehmes-noch-angenehmes Gefühl.

 

Dritter Übungsbereich der Aufmerksamkeit: Das Wahrnehmungsfeld Geist in seinen wechselnden Stimmungen

[§13 Fünf verstimmende Faktoren]

Und wie verweilt ein Übender, indem er das Wahrnehmungsfeld als Wahrnehmungsfeld betrachtet?

Ein von [1] Begierde verstimmtes Wahrnehmungsfeld nimmt er bewusst wahr als von Begierde verstimmt, und ein nicht von Begierde verstimmtes Wahrnehmungsfeld nimmt er bewusst wahr als nicht von Begierde verstimmt.

[So auch mit:]

[2] von Widerstand verstimmt– nicht von Widerstand verstimmt,

[3] von Vorstellung verstimmt– nicht von Vorstellung verstimmt,

[4] von Enge verstimmt,

[5] von Abgelenktheit verstimmt.

 

[§14 Vier Entfaltungen]

Er nimmt ein [1] groß gewordenes Wahrnehmungsfeld bewusst wahr als groß geworden,

und ein nicht groß gewordenesWahrnehmungsfeld als nicht groß geworden.

[So auch mit:]

[2] begrenztes – unbegrenztes,

[3] gesammeltes – ungesammeltes,

[4] befreites – unbefreites.

 

Vierter Übungsbereich der Aufmerksamkeit: Wechselnde Inhalte im Wahrnehmungsfeld

Und wie verweilt ein Übender, indem er wechselnde Inhalte in diesem Wahrnehmungsfeld als wechselnde Inhalte in diesem Wahrnehmungsfeld betrachtet?

[§15 Fünf Hindernisse]

Da verweilt ein Übender, indem er wechselnde Inhalte in diesem Wahrnehmungsfeld im Zusammenhang mit den fünf Hindernissen betrachtet.Wenn [1] Sinnesbegierde [Haben- oder Erleben-wollen] in ihm vorhanden ist, nimmt er bewusst wahr: ‚Sinnesbegierde ist in mir vorhanden.‘

oder wenn keine Sinnesbegierde in ihm vorhanden ist, nimmt er bewusst wahr: ‚Sinnesbegierde ist nicht in mir vorhanden.‘

und er nimmt auch bewusst wahr, wie noch nicht entstandene Sinnesbegierde entsteht,

und wie bereits entstandene Sinnesbegierde aufgegeben wird,

und wie aufgegebene Sinnesbegierde künftig nicht mehr entsteht.

[So auch mit:]

[2] Übelwollen,

[3] Trägheit und Dumpfheit,

[4] Rastlosigkeit und Unruhe,

[5] Verstehen-wollen [oder Zweifel].

 

[§16 Fünf Daseinsbereiche]

Darauf aufbauend verweilt ein Übender, indem er die wechselnden Inhalte

in diesem Wahrnehmungsfeld im Zusammenhang mit den fünf Daseinsbereichen,

an denen angehaftet wird, betrachtet.

Da nimmt ein Übender bewusst wahr:

So ist [1] Form. So ist ihr Aufkommen, so ist ihr Vergehen.

[So auch mit:]

[2] Gefühlen,

[3] Wahrnehmungsfeld in seinen Stimmungen,

[4] Inhalten im Wahrnehmungsfeld,

[5] Bewusstsein.

 

[§17 Sechs innere und äußere Grundlagen der Aufmerksamkeit]

Darauf aufbauend verweilt ein Übender, indem er die wechselnden Inhalte

in diesem Wahrnehmungsfeld im Zusammenhang

mit den sechs inneren und äußeren Grundlagen betrachtet:

Da nimmt ein Übender das [1] Auge bewusst wahr als Auge,

er nimmt Formen bewusst wahr als Formen,

und er nimmt die Unfreiheit, die bedingt durch ihr Zusammenkommen

entsteht, bewusst wahr als Unfreiheit;

und er nimmt auch bewusst wahr, wie die noch nicht entstandene Unfreiheit entsteht,

und wie die bereits entstandene Unfreiheit aufgegeben wird,

und wie die aufgegebene Unfreiheit künftig nicht mehr entsteht.

[So auch mit:]

[2] Ohr – Klänge – Unfreiheit,

[3] Nase – Gerüche – Unfreiheit,

[4] Zunge – Geschmäcker – Unfreiheit,

[5]Körper– Empfindungen – Unfreiheit,

[6] Hirn – Geistesinhalte – Unfreiheit.

 

[§18 Sieben Faktoren des Erwachens]

Darauf aufbauend verweilt ein Übender, indem er die wechselnden Inhalte in diesem Wahrnehmungsfeld im Zusammenhang mit den sieben Faktoren des Erwachensbetrachtet.Wenn der Erwachensfaktor [1] Aufmerksamkeit in ihm vorhanden ist, nimmt er bewusst wahr: ‚Der Erwachensfaktor Aufmerksamkeit ist in mir vorhanden.‘

Oder wenn der Erwachensfaktor Aufmerksamkeit in ihm nicht vorhanden ist, nimmt ein Übender bewusst wahr: ‚Der Erwachensfaktor Aufmerksamkeit ist in mir nicht vorhanden.‘

Und er nimmt auch bewusst wahr, wie der noch nicht entstandene Erwachensfaktor Aufmerksamkeit entsteht, und wie der bereits entstandene Erwachensfaktor Aufmerksamkeit völlig kultiviert wird.

[So auch mit:]

[2] Tief-schauen [Wirklichkeitsergründung],

[3] Vitalität [Energie],

[4] dankbare Einstimmung [Freude],

[5] Gestilltheit [Stille],

[6] mühelose offene Konzentration [Sammlung],

[7] Gelassenheit [Gleichmut].

 

[§19 Vier Edle Wahrheiten]

Darauf aufbauend verweilt ein Übender, indem er die wechselnden Inhalte in diesem Wahrnehmungsfeld im Zusammenhang mit den Vier edlen Wahrheiten betrachtet.

Da nimmt ein Übender der Wirklichkeit entsprechend bewusst wahr:

‚Dies ist [1] Nicht-ganz-frei-fließen [Anecken oder Warmlaufen],

so wie es entstanden ist.’.

[So auch mit:]

[2] das Aufkommen von Nicht-ganz-frei-fließen,

[3]das Vergehen von Nicht-ganz-frei-fließen,

[4] der schrittweise Weg, der zum Vergehen von Nicht-ganz-frei-fließen führt.

 

[§20 Refrain]

So verweilt er, indem er [1] Atmung in seinem Körper als Atmung betrachtet.

Oder er verweilt, indem er Atmung in dem Körper

von Anderen als Atmung betrachtet.

Oder er verweilt, indem er Atmung

sowohl in seinem Körper

als auch im Körper von Anderen

als Atmung betrachtet.

Oder er verweilt, indem er die Entstehungsfaktoren der Atmung betrachtet.

Oder er verweilt, indem er die Vergehensfaktoren der Atmung betrachtet.

Oder er verweilt, indem er die Entstehens- und Vergehensfaktoren der Atmung betrachtet.

Oder die Gegenwärtigkeit ‚da ist Atmung da‘ ist so in ihm verankert,

dass er bewusst einsehend verweilen kann.

Und er verweilt frei, haftet an nichts in der Welt an.

 

[So auch mit:]

[2] Körperstellungen,

[3] Handlungen,

[4] Körperorganen und -flüssigkeiten,

[5] Vier Elementen,

[6] Neun Leichenfeldbetrachtungen,

[7] Gefühlen,

[8] Wahrnehmungsfeld in seine wechselnden Stimmungen,

[9] Fünf Hindernissen,

[10] Fünf Daseinsbereichen,

[11] Sechs inneren und äußeren Grundlangen der Aufmerksamkeit,

[12] Sieben Faktoren des Erwachens,

[13] Vier Edlen Wahrheiten.

 

Erfolgsversprechen, Schluss und Danksagung

[§21 Erfolgsversprechen]

Ihr Übenden, sollte jemand diese vier Übungsbereiche der Aufmerksamkeit

auf diese Weise sieben Jahre lang kultivieren,

kann zweifellos eine von zwei Früchten für ihn erwartet werden:

entweder universelles Bewusstsein Hier und Jetzt.

Oder, wenn noch eine Spur von Anhaften übrig ist:

Das teilweise Überwinden der Hindernisse.

Aber von sieben Jahren ganz zu schweigen, Übende:

Sollte jemand diese vier Grundlagen der Aufmerksamkeit auf solche Weise sechs Jahre lang kultivieren… fünf … vier … drei… zwei… ein Jahr, …sieben Monate… sechs… fünf… vier… drei… zwei… einen Monat… einen halben; …sollte jemand diese vier Übungsbereiche der Aufmerksamkeit auf solche Weise sieben Tage lang kultivieren,

kann zweifellos eine von zwei Früchten für ihn erwartet werden:

Entweder universelles Bewusstsein Hier und Jetzt;

Oder, wenn noch eine Spur von Anhaften übrig ist:

Das teilweise Überwinden der Hindernisse.

 

[§22 Schluss]

[Deshalb wurde gesagt:]

„Dies ist der direkte Weg

zur Läuterung der Wesen,

zur Überwindung von Sorgen und Bedauern,

zum Beenden von Leiden an körperlich und geistig Unangenehmem,

zum Erlangen des Weges der Edlen,

zur Verwirklichung von Befreiung im Leben,

nämlich die vier Übungsbereiche der Aufmerksamkeit.

 

[§23 Danksagung]

Das ist es, was der Buddha sagte.

Die Übenden waren zufrieden und begeistert über die Worte des Erwachten.